Lorsch. Fast jedem Lorscher sagt der Name Sieglinde Mühlum etwas. Als Erzieherin und langjährige Leiterin des evangelischen Kindergartens hat sie schließlich Hunderte Kinder in deren wichtigen ersten Lebensjahren betreut und engen Kontakt mit den Familien gehalten. Jetzt feierte Mühlum ihren 85. Geburtstag und freute sich über viele Gratulationen. Mit dem sogenannten Situationsansatz, nach dem Mühlum mit ihrem Team arbeitete, wurde sie in Fachkreisen sogar landesweit bekannt.
Früher wurden Kita-Erzieherinnen oft freundlich als „Tante“ tituliert. Auch die Jubilarin war in ihren ersten Berufsjahren für zahlreiche Kinder „Tante Sieglinde“. Wie selbstverständlich eine solche heute wunderlich klingende Bezeichnung damals war, daran kann sich Mühlums Tochter Bettina noch gut erinnern. Im Kindergarten nannten sie und ihr Bruder Thomas schließlich selbst ihre eigene Mutter normalerweise Tante. War der Kindergartentag zu Ende, hieß „Tante Sieglinde“ auf dem Heimweg für sie wieder Mama.
Noch heute sprechen Pädagogen mit Hochachtung von Sieglinde Mühlums Arbeit
Bevor Sieglinde Mühlum in den evangelischen Kindergarten wechselte, war sie in der katholischen Einrichtung der „Schwestern von der göttlichen Vorsehung“ tätig, dem späteren Kindergarten St. Nazarius. Ihren Berufsweg begann „Fräulein Sieglinde“ einst in der Oberpfalz. Sie war nicht nur in Kitas, sondern auch in Privathaushalten beschäftigt, sowohl zu den Erwachsenen wie zu den Kindern hatte die Vollblut-Pädagogin stets einen guten Draht.
Mühlum hat einiges im einst streng reglementierten Kindergarten-Alltag modernisiert. Sie hat den Situationsansatz nicht bloß angewendet, sie hat ihn gelebt. Das pädagogisch anspruchsvolle Konzept, das in den 1970er Jahren aufkam und nach dem bis heute gearbeitet wird, verfolgt das Ziel, Kinder zu unterstützen, ihre Lebenswelt selbstbestimmt zu gestalten. Es stellt die individuelle Entwicklungssituation eines Kindes ins Zentrum, berücksichtigt seine persönliche Umgebung. Es steht für Offenheit, Übernehmen von Verantwortung, Befähigung zu Kompetenz und sozialem Handeln, gilt als das Gegenteil von autoritärer Erziehung, ist aber alles andere als ein Modell beliebiger Grundsätze.
Der Situationsansatz im evangelischen Kindergarten Lorsch wurde zur Einführung damals zwei Jahre lang wissenschaftlich begleitet. Als das Projekt erfolgreich abgeschlossen war, hat die Leitung in Lorsch weiter danach gearbeitet. Mühlums Fachkenntnis kann man in verschiedenen Publikationen nachlesen. Noch heute sprechen Pädagogen mit Hochachtung von ihrer Arbeit und ihrer Vorbild-Funktion.
Die Kinder waren hilfsbereit
Sieglinde Mühlum hat Kinder ernst genommen. Für sie war die engagierte Erzieherin eine geliebte Respektsperson. Sogar in der Grundschule habe man damals erkennen können, wenn ein Erstklässler den evangelischen Kindergarten besucht hatte, erzählten sich jetzt Gäste beim Geburtstagsfest. Diese Kinder seien zum Beispiel durch besondere Hilfsbereitschaft aufgefallen – und sie ließen Mitschüler abschreiben.
Natürlich, es waren andere Zeiten im vorigen Jahrhundert. Der Kindergarten in der Biengartenstraße hatte zum Beispiel nur überschaubare 50 Plätze, heute sind es mehr als doppelt so viele. Jeden Monat trafen sich die Eltern zu Elternabenden. Täglich gab es eine Konferenz statt des vormaligen Stuhlkreises. Dass die Runde den Namen Konferenz wählte, der später auch in anderen Kitas üblich wurde, ging auf den Vorschlag eines Kindes aus dessen Elternhaus zurück. Überzeugende Anregungen, die Kinder von daheim mitbrachten, flossen selbstverständlich in die Kindergarten-Arbeit mit ein, erinnert sich Mühlum etwa auch an einen aufwändigen Kita-Ausflug mit Bus und Zug. Zu den Teestunden wurde oft klassische Musik gehört.
„Meine Bürotür war nie geschlossen“, sagt Sieglinde Mühlum. Die Verbindung zu den Kindern, den Eltern und ihrem Team sei eng gewesen. Nach mehr als 30 Jahren ging die Kindergartenleiterin im Jahr 2000 in den Ruhestand. Sie wurde in großer Runde verabschiedet, auch von weither kamen damals Redner, um Lob und Anerkennung für Mühlums Tätigkeit auszudrücken.
Ein Zeitungsartikel führte die Schnelleserin nach Kambodscha
Seit 25 Jahren genießt Sieglinde Mühlum ihren Ruhestand. Als sie ihr Berufsleben beendete, kündigte sie an, künftig mehr reisen und lesen zu wollen. Das hat sie umgesetzt. Sogar ihren großen Traum, Angkor Wat zu besuchen, hat sie sich erfüllt. Über die berühmte Tempelanlage in Kambodscha hatte sie als Kind einen Artikel in der Zeitung gelesen. Die Zeitung entdeckte sie im Gasthof, in dem ihre Familie – Sieglinde wurde in einem kleinen Ort im Böhmerwald geboren – nach der Aussiedlung lebte. Der Artikel fesselte sie so, dass sie Angkor Wat unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte.
Als Rentnerin nutzte Sieglinde Mühlum die Chance, nach Kambodscha zu reisen. 2003 war sie dort unterwegs – und sie sei nicht enttäuscht worden, freut sie sich, viele Tempelanlagen besucht zu haben. Oft war sie zudem in Frankreich und Italien, ihre bislang letzte größere Reise führte sie nach Barcelona. Die nächste kleinere wird eine Neckar-Schifffahrt sein, Geschenk ihrer Kinder zum 85. Geburtstag.
Wenn sie nicht reist oder liest – „querbeet, alles Mögliche, das ganze Zimmer ist voller Bücher, ich bin eine Schnell-Leserin“ – widmet sich Sieglinde Mühlum zum Beispiel ihrem Garten. Auf dem wunderschönen Grüngelände gedeihen, umrahmt von prächtigen Hortensien, unter anderem Tomaten, Bohnen, Gurken und Mangold. Auch eine „asiatische Ecke“ ist eingerichtet.
Sieglinde Mühlum ist zweifache Großmutter. Ihr Ehemann Karl-Heinz, das Paar war mehr als 50 Jahre verheiratet, starb vor einigen Jahren. Durch seine Arbeit als Hausmeister an der Siemens-Schule war er ebenfalls zahlreichen Lorschern bekannt. Zur Familie gehörte lange auch ein Dackel, jetzt Katze „Nicky“.
Im Namen der Stadt Lorsch überbrachte Frank Schierk Glückwünsche, Urkunde und einen Stadtgutschein zum Geburtstag. Der Stadtrat konnte auch über die Kindergartenzeit kundig mitreden, denn auch zwei Kinder der Schierks besuchten einst die evangelische Kita.
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