Lorsch. Der letzte Besuch im Theater Sapperlot war im Februar 2020. Seit März hatte sie keine Auftritte mehr. 93 Shows waren damals in einem einzigen Jahr geplatzt. Es regierte „das Ereignis“, wie Lilo Wanders es nennt. Die Pandemie und die damit verbundene Zwangspause haben sie enorm belastet, betont sie gleich zu Beginn ihres Lorscher Gastspiels. „Corona hat mir zugesetzt.“ Sie sei in kurzer Zeit körperlich sichtlich gealtert, spüre Gedächtnislücken und kämpfe mit Erschöpfungszuständen. Dennoch bleibe sie „die wahre Wanders“. Nur jetzt eben in alt.
Mit mütterlichem Charme
Nun, mit 67 darf man sich durchaus ein paar optische Abstriche leisten. Ihren mütterlichen Charme, die radikal liberale Gesinnung und die liebenswerte, einnehmende Art hat sie nicht verloren. Und auch thematisch bleibt sie sich treu: „Sex ist immer noch ihr Hobby“ titelt das aktuelle Programm, das ebenso wie sein Vorgänger „Gaga, geil & gierig“ – zu ihrem 60. Geburtstag – überwiegend aus retrospektiven Betrachtungen und biografischen Ausflügen besteht.
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Im zweiten Teil beschränkt sich die „Aufklärerin der Nation“ sogar ausschließlich darauf, die Fragen des Publikums zu beantworten, die während der Pause in einem Sektkübel gesammelt wurden.
Trotz dieser eher schlanken Dramaturgie genoss das Publikum einen überaus kurzweiligen Abend mit einer Kunstfigur, die auf der Bühne gerne frivol und auch mal zotig, nie aber obszön und billig daherkommt.
Bei der Wanders ist der Blick zurück ein ironisches Augenzwinkern in Sektlaune, die bisweilen leicht moussierende Melancholie rutscht niemals ins Pathetische ab. In der Künstlerin bilden rülpsende Reeperbahn und vornehme Hamburger Eleganz eine aufregende Personalunion. Sie beweist, dass man in Würde altern kann, auch wenn sich unterm Glitzerkleid „das Speck-drum“ erweitert habe, wie sie in Lorsch erklärt: „Wer was Festes will, ist bei mir falsch.“
Hohe Einschaltquoten
Über zehn Jahre lang hat sie in der Sendung „Wa(h)re Liebe“ tabuloses Sextainment zelebriert und mit ihrer entspannten Präsenz Fernsehgeschichte geschrieben. Etwa 95 Prozent der Deutschen, so heißt es, kennen sie als Aufklärerin, die unverklemmt Tabuthemen vor die Kamera brachte.
Mit ihrem Vox-Format hatte sie Swinger-Clubs, Stellungs- und Orgasmustipps in deutsche Wohnstuben geschickt und Einschaltquoten erobert. Große Popularität und 82 ernst gemeinte Heiratsanträge waren die Folge. Das abrupte Aus der Sendung auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs habe geschmerzt. Den kleinen Kratzer im Herzen merkt man ihr noch an.
Vorbild für viele Kolleginnen
„Öffnet die Herzen, herzt die Öffnungen“, war und ist ihr Credo. Sie war ein Pionier der LGBTQ-Community, als sie Anfang der 90er als Travestie-Figur drauflos gestöckelt ist. Heute ist sie eine queere Ikone und ein Vorbild für Kolleginnen wie Olivia Jones. Sie lebt mit einem alten Hund und zwei gut erzogenen Katzen auf einem großzügigen Bauernhof im Alten Land bei Hamburg.
Privatmensch und Kunstfigur werden nach wie vor strikt getrennt, um sich abseits des Publikums in einem geschützten Rahmen bewegen zu können. Es gibt eine Ehefrau und drei Kinder. Sie mag es nicht, wenn ihr richtiger Name in der Öffentlichkeit erwähnt wird, hat Lilo Wanders vor drei Jahren in einem Interview in dieser Zeitung gesagt.
Als Mitbegründerin des Schmidt Theaters auf der Reeperbahn erschuf sie 1988 gemeinsam mit Corny Littmann und anderen ein Stück schrille Kultur in der Hansestadt. Die Kunstfigur der eleganten, verschnupft-näselnden Theaterdiva wurde von Schauspielerin Evelyn Künneke inspiriert. Anfang der 80er hatte sie die Diva getroffen und war in „Die Mythomanin“ im Hansa Theater in deren Rolle geschlüpft.
In Lorsch wirkte Lilo Wanders ruhiger und nahbarer als noch vor der Pandemie. Das Kokettieren mit Alterserscheinungen ist einer fatalistischen Duldsamkeit gewichen, die aber in keinem Moment in dumpfe Wehleidigkeit oder opportunistisch-volkstümliches Mitleidsgejammer abgleitet. Es ist schwer, die Wanders nicht zu mögen – und vielleicht erklärt sich so auch die Tatsache, dass ihr wildfremde Menschen von ihren tiefsten und intimsten Abgründen erzählen, wovon sie im Sapperlot sehr unterhaltsam berichtet.
„Wer Schmetterlinge im Bauch haben will, muss sich Raupen in den Popo stecken.“ Nach einem kurzen Intro geht es in Lorsch bald zur Sache. Die Themen: erste Liebe, später Sex und die Dauer von Orgasmen. Zwei bis acht Sekunden beim Mann und drei bis elf bei der Dame. Man erfährt, dass eine Klitoris bis zu 14000 Nervenfasern aufweist, an denen man nicht mit der Kneifzange herumwerkeln sollte.
Appell für mehr Kommunikation
„Wir reden zu wenig miteinander“, plädiert Wanders für mehr Kommunikation, denn der beste Sex sei immer der, den beide – oder alle – erfüllend finden. „Geküsstes Fleisch leuchtet“, lautet ihre Formel diesbezüglich. Von allen Perversionen sei Keuschheit mit Abstand die langweiligste.
Auf der Bühne erläutert sie, warum Stierhodenextrakt als Aphrodisiakum nichts tauge („Macht lediglich Mundgeruch“) und was gerade state of the art in punkto Sextoys ist. Dass vor dem Einzug batteriebetriebener Helferlein mancher Fernfahrer eine mit Hackfleisch gefüllte Thermosflasche mitgeführt haben soll, mag man gern glauben, den Gebrauch möchte man sich vor dem geistigen Auge ungern ausmalen.
Interessanter war die Nachricht, dass eine Frau bei einem vorgetäuschten Orgasmus drei Mal so viele Kalorien verbrenne wie bei einem echten. „Das soll jetzt aber kein Diät-Tipp sein“, fügt sie an. Auch, wenn Lilo Wanders gewohnt souverän und stilsicher durch die Schmuddelecke spaziert, behält sie immer die wahre Liebe im Blick. Mit „h“in der Mitte. Langer Applaus im Sapperlot. Das Publikum wirft rote Rosen.