Bensheim. Viel gewagt und noch mehr gewonnen, so kann eine Veranstaltung beim deutsch-italienischen Freundeskreis Bensheim-Riva beschrieben werden. Man nehme dazu ein aktives Vereinsmitglied, nämlich Ilga Vis, und die verwegene Idee, in Zeiten, in denen sich die Europäische Union anschickt, den Verbrennungsmotor für Automobile zu verbieten, eine Lesung über eine der ersten touristischen Auto-Fernreisen in Szene zu setzen.
Hilfreich war in diesem Zusammenhang das literatur-historische Hintergrundwissen, Otto Julius Bierbaum (1865 - 1910) zu kennen, der Erzählungen, Bühnenwerke, Essays und Lyrik verfasst hat, die ihn zu einem der populärsten Autoren des Kaiserreichs machten.
Bierbaum unternahm im Jahre 1902 mit seiner zweiten Frau, einer gebürtigen Italienerin, die besagte Autoreise, die ihn von Berlin über Prag und Wien zu dem am Golf von Neapel gelegenen Sorrent und zurück über die Schweiz bis nach Stein am Rhein führte. Der darüber in einer Vielzahl von Briefen an Bekannte unterschiedlicher Metiers und Honneurs im Jahre 1903 verfasste Expeditionsbericht mit dem süffisanten Titel „Eine empfindsame Reise im Automobil“ war nun die literarische Vorlage für die Lesung.
Bierbaum wusste als gebildeter Feuilletonist nur zu gut, dass er mit diesem Beitrag die von Goethe (1749 – 1832) in „Italienische Reise“ und von Seume (1763 – 1810) in „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1812“ ausgelöste und dann noch von Mendelssohn-Bartholdy (1809 – 1847) mit seiner 4. Sinfonie „Italienische“ musikalisch verstärkte Italien-Sehnsucht der Deutschen befriedigte.
Da Bierbaum unter „empfindsam reisen“ die Bereitschaft verstand, neue Eindrücke aufzunehmen, vor allem sich mit wachen, allen Erscheinungen des Lebens, der Natur zugewandten Sinnen zu bewegen, begannen seine Ausführungen mit der Beschreibung des Automobils. Es war ein Cabrio mit zwei Achsen und vier Rädern der Frankfurter Adlerfahrradwerke, ausgestattet mit einem Ein-Zylinder-Motor. Für den Wagen war eine ingeniös konstruierte Plane entwickelt worden, die Schutz vor Regen und Sonne bieten sollte. Vorne befand sich der Fahrerbock mit Lenkrad für den Chauffeur, hinten die Doppelsitzbank für das Ehepaar Bierbaum.
„Lerne zu reisen, ohne zu rasen“
Damalige Autofahrten erforderten noch eine Veränderung der Garderobe, die Bierbaum als „schneiderische Metamorphosen“ bezeichnete, bis am Ende aus jedem Kleidungsstück „“Töff! Töff!“ herauskäme. Die Vorstellung, sich gegen alle Unbilden des Wetters kleidungsmäßig zu rüsten und die Hygiene durch eine Gummibadewanne zu sichern, führte zu einem Gesamtgewicht des Vehikels von 22 Zentnern. Bierbaums Motto „Lerne zu reisen, ohne zu rasen“, war bei einer Motorstärke von acht PS und drei Schaltstufen damit nicht gefährdet.
Diese Art des Reisens gab Bierbaum genügend Zeit, die landschaftlichen Schönheiten einzufangen, die Menschen und ihre nationalen Eigenarten aus der Sicht eines staunenden Beobachters darzustellen. So nannte er „Venedig eine Königin, die sich für Geld sehen lassen muss vor Gaffern, die zwar Geld, aber keinen Respekt vor alten echten Majestäten haben“, um dann nüchtern fortzufahren, „der Hauptreiz dieser Stadt liegt in ihrem Verfall“.
In Florenz ist Bierbaum von der Attraktivität der Kunstfülle fasziniert, registriert aber auch die Tierschinderei in der Landwirtschaft, die er für eine Schande hält. Und er kann sich herrlich echauffieren über die prüden Engländerinnen, deren Beschwerden dazu geführt haben, nackten männlichen Figuren einen blechernen Lendenschurz zu verpassen – „Feigenblätterunfug“. Auf der Rückreise gelang die erste Überquerung des Gotthard-Passes mit einem Auto: 2111 Höhenmeter, 136,4 Kilometer in neun Stunden – „eine sehr respektable Leistung für einen achtpferdigen Motor“.
Als letzte Ingredienz zu einer gelungenen Lesung fehlt noch der Rezitator. Stephan Schäfer , Gründer des „Kölner-Künstler-Sekretariats“ zur Vermittlung von Literatur und klassischer Musik und den Riva-Freunden schon von Goethes „Römischer Karneval“ bekannt, erwies sich als kongeniale Besetzung. Das Timbre seiner Stimme in Verbindung mit virtuoser Sprachgestaltung erweckte den meinungsstarken und dennoch von leichtfüßiger Ironie getragenen, 120 Jahre alten Text zu neuem Leben. Sehr langer herzlicher Beifall und Dank an alle Beteiligten. Peter J. Zeyer